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Fragen an Thomas
        Härtner (Schweiz)


        Sprichst du alle vier Sprachen?
        Nein, ich bin eher ein Sprachba-
        nause. Meine Frau spricht Itali-
        enisch und Französisch. Ich nur
        der Spur nach. In der Schule hat-
        ten wir drei Jahre Französisch.
        Es war mühsam, die Nasallau-
        te und vor allem die Gramma-
        tik zu lernen. Deutsch ist mei-
        ne Muttersprache, die gibt mir       gar nicht. Da muss man in den       und sagen: „éxcuse moi, je parle
        Geborgenheit, wie eine Mutter.       Kanton Graubünden fahren und        seulement un peu français“ oder
        In den anderen Sprachen füh-         hört in der Bahn diese Sprache.     „solo un poco italiano“. Oder
        le ich mich eher „ungeborgen“        Diese Sprachregion kämpft um        auf Englisch wechseln, was ja
        und mir fehlt die Motivation zu      Anerkennung als vierte Landes-      viele Leute verstehen oder zu-
        büffeln, was nötig wäre, um eine     sprache.  Im Fernsehen  kommt       mindest der Spur nach.
        Fremdsprache zu lernen.              hie und da eine Sendung auf
                                             Rätoromanisch.                      Was denkst du dir sonst dazu?
        Wie war das für dich als Kind?                                           Kürzlich hörte ich, dass das
        In meinem Elternhaus wurde           Erlebst du Sprachgrenzen?           Schweizer Staatsgebilde mehr
        ausnahmslos deutsch gespro-          Ja, wenn ich mit dem Zug Rich-      von Frankreich geprägt wurde
        chen. In den sechziger Jahren        tung  Westen fahre von Zürich       als  von Deutschland.  Napole-
        hatten wir Nachbarn, die italie-     aus nach Bern, heisst es plötz-     on habe dazu beigetragen. In
        nisch gesprochen haben. Zudem        lich: Prochain arret: Fribourg.     der Schule mussten wir neben
        gab es drei Schweizer Fernseh-       Die Schaffner sprechen franzö-      Deutsch Französisch lernen und
        programme, bei denen wir die         sisch und es heißt nicht „Stras-    nicht wie heute Englisch, was ja
        anderen Landessprachen hören         se“, sondern „Rue“. Im  Tessin      viel praktischer wäre.
        konnten.                             fängt es nach dem Gotthard-         Ich denke, die  Westschweizer
        Wir  gingen  oft in  den  Kanton     tunnel an mit Italienisch. Diese    Kultur ist legerer (von légère),
        Tessin in die Ferien. In den         Sprachgrenze ist mir irgendwie      als die Deutschschweizerische.
        französischsprachigen Teil  der      vertrauter, weil wir da viel in den   Wir sind stärker von den nörd-
        Schweiz nur ganz selten.             Ferien waren. In der Romandie,      lichen Nachbarn geprägt. Die
        Von den Ferien im  Ticino er-        so heisst die Westschweiz, mach-    Sprachmelodie des Schweizer-
        innere ich mich an folgende          ten wir mehr Tagesausflüge.         deutsch hat etwas eher Hartes
        Worte: „funiculare“, d.h. kleine     In der Schweiz kann man mit         wie das Hochdeutsche und ist
        Bergbahn, oder „prossima fer-        dem Zug an einem Tag durch          weniger verspielt wie das Ita-
        mata“, d.h. nächster Halt. In        alle Sprachregionen fahren. Die     lienisch oder das Elegante der
        der deutschen Schweiz sagt man       Grenze  zur  Westschweiz,  dem      französischen Sprache. Es gibt
        meistens: „Tschau", das vom          französischen Teil der Schweiz,     ja bekanntlich in der deutsch-
        italienischen ciao kommt  oder       wird als „Röstigraben“ bezeich-     sprachigen Schweiz unzähli-
        excüsi, vom französischen „je        net.                                ge  Dialekte, die  z.T.  fast  nicht
        m`éxcuse“, was Entschuldigung        Rösti ist ein typisch schweize-     verständlich sind, wie z.B. der
        heisst. Da sieht man eine gewis-     risches  Kartoffelgericht. Wieso    Walliser Dialekt. Zudem lieben
        se Sprachvermischung.                das so ist, weiss ich nicht, fand es   wir  -  besonders bei  Kindern  -
                                             aber immer lustig. Da ich nicht     die  Verkleinerung: Blüsli, Jäg-
        Wie ist es heute?                    so gut Französisch und Italie-      gli, Hösli, Pullöverli, Blötterli,
        Heute wird in Zürich neben           nisch spreche, d. h. mehr verste-   Brüggli, Oepfeli, Chindli, etc.
        Deutsch  meistens  Englisch  ge-     he als ich sprechen kann, fühlte    Das finde ich herzig, bedeutet
        sprochen. Ab und zu hört man         ich mich dann nicht so gut. So-     niedlich, und wärmt mein Herz
        Italienisch und eher selten Fran-    bald die Konversation kompli-       wie eine Mutter, also die Mut-
        zösisch. Rätoromanisch schon         zierter wird, muss ich abhängen     tersprache.


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